Sonntag, 22. März 2015

Plaste in den Kammerspielen



Wie tickt Berlin?

In den Kammerspielen des Deutschen Theaters zeigen vier Schauspieler eine „Unerträglich lange Umarmung“ bis ihr Leben schließlich erlöscht. Um genau zu sein, drei von ihnen finden ihren Tod in Berlin, die vierte Person stirbt in New York.  Damit sind die beiden Orte der Handlung vorgegeben. Wer den Sinn des Lebens, das Glück nicht in Manhattan findet, der fliegt (flieht) nach Berlin.

Die Bühnenverdichtung, die sich der Autor Iwan Wyrypajew ausgedacht hat, musste einen Bezug zum Berliner Auftraggeber im Deutschen Theater haben. Doch eigentlich sind die Orte und die Menschen austauschbar. Sie haben zwar Namen, wie Emmy, Monika, Charlie und Krystof, aber sie sind  keine Individuen. Austauschbar, obwohl sie sich kurz selbst als Osteuropäer und US-Amerikaner vorstellen. Die etwa-30-Jährigen leben in einer westlich kodierten Umgebung, doch empfinden sie ihre Welt als künstliches Biotop. Die Plastewelt (der Übersetzer verwendet bewusst den ursprünglich in Leuna erfundenen Begriff Plaste, nicht Plastik) wird als Metapher für den Zuschauer vom ersten Moment an sichtbar. Das Publikum blickt in ein Gewächshaus. Die Bühne ist mit riesigen milchig-weißen Folien bespannt. Ein Scheinwerfer an der Rückwand simuliert die unechte Sonne.  (Bühnenbild Rebecca Ringst) Ein Treibhaus für die Protagonisten, die sich seltsam in diesem falschen Leben bewegen. Sinnlos, unwirklich verschwenden sie ihre Tage im Überfluss. Der altmodische Begriff der Dekadenz wird durch moderne, zeitgemäße Symbole ersetzt. So schmeißt Charlie (Moritz Grove) gleich zu Beginn mit mehreren seiner Mobiltelefonen um sich. Emmy (Franziska Machens) schluckt Pillen. Krystof (Daniel Hoevels) genießt sonderbare Sexspiele. Monika (Julia Nachtmann) treibt ab, weil es ihr gerade so passt. Immer noch in New York, der Nummer Eins auf der Skala der beliebtesten Metropolen. Der Sinnlosigkeit ihrer Existenz  wollen sie schließlich entfliehen. Sie reißen die riesigen Folien herunter und drohen im Plastikmüll zu ersticken. Letztes Aufbäumen. In ihrer Verzweiflung flüchten Charlie, Krystof und Monika nach Berlin.

Nun beginnt für die echten Berliner ein Heimspiel mit Wiedererkennungseffekt. Wenn der New Yorker Charlie am Flughafen Tegel in ein Taxi steigt und dem Fahrer das Ziel nennt: „Bringen Sie mich ins Zentrum!“, dann bellt dieser mit seinem unnachahmlichen Charme zurück: „In Berlin gibt es kein Zentrum!“ Welchen Spiegel hält ein russischer Autor aus Moskau dem Berliner vor? Auch hier in der Stadt (Nummer Drei in Europa), eine moderne, westliche Wunderwelt, eine Plastetüte, die ein Gott auf den Müll geworfen hat. Das von den Protagonisten idealisierte Berlin zeigt sich schließlich von der gleichen Seite wie New York. Alles ist künstlich, wertlos, plastiniert (!). Charlies Erlebnis auf der Wrangelstraße bringt tödliche Ausweglosigkeit.

Die Regie, Andrea Moses, verlangt von den Schauspielern kraftzehrende, ausdruckstarke Körpersprache. Konsequent wird die besondere Form des Autors von den Schauspielern umgesetzt. Die Quelle allen Lebens ist der Impuls, die Bewegung, der Orgasmus. Besonders beeindruckend, wenn Monika im hinteren Teil der Bühne ekstatisch tanzt, dann monologisieren die anderen an der Rampe ihren Text. Die Personen auf der Bühne spielen ihre Rolle nicht, sie erzählen, beschreiben dem Publikum ihre Rolle, körperlich heftig.

Die Flucht nach Berlin bringt jedoch keine Erlösung, keine Erleuchtung. Sie finden den Sinn des Lebens nicht. Sie flüchten schließlich in den Tod. Doch dieser Tod verdient den Namen nicht, denn in der Vorstellung des Autors ist das Ende nur ein Übergang in das Universum. In der Galaxie gibt es keine Trennung zwischen West und Ost, zwischen Plaste und Natur. Die westliche Moderne ist aufgehoben. Im universellen Vakuum dagegen sprechen Delphine, Schlangen und Blumen, da leuchtet ein blauer Punkt. Was nach der unerträglich langen Umarmung bleibt sind die Hüllen, die in dem Theaterstück nicht entsorgt werden. Gottseidank. Iwan Wyrypajew bezeichnet seine Story als  Science Fiction.

Wer dieses Genre der Literatur mag, den Blick in die Welt von morgen und übermorgen, der kann sich die Aufführung am 07. April 2015, 20.00 Uhr und  01. Mai 2015, 19.30 Uhr, anschauen.
https://www.deutschestheater.de/home/umarmung/


Im Berliner Abendblatt:
http://www.abendblatt-berlin.de/2015/03/21/plastewelt-in-den-kammerspielen/

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wer kommentiert bekommt auch ein Antwort.